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STATION 2: VERBORGENE TEXTE - VERBORGENES WISSEN

Im Kampf um den rechten Glauben kam in der Frühen Neuzeit Zensur zum Einsatz. Bei Theodor Zwingers Enzyklopädie etwa waren sich die römische und die spanische Inquisition einig: Hier mussten Textpassagen getilgt werden! Die Kölner Jesuiten setzten die peniblen Anweisungen in mühsamer Kleinarbeit um.

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Enzyklopädisches Werk von Theodor Zwinger: Theatrum Humanae Vitae, Basel, 1604

DIE UNFREIE ENZYKLOPÄDIE

Das gesamte Wissen der Welt an einem Ort zu vereinen, es durchsuchbar und zugänglich zu machen – das war die Grundidee der frühneuzeitlichen Enzyklopädien. Heute strebt die Wikipedia nach einem ähnlichen Ziel und verwendet dafür die Kommunikationsmittel des Internets. Im 16. und 17. Jahrhundert ermöglichte ebenfalls ein verhältnismäßig neues Medium, nämlich das gedruckte Buch, die Erstellung von enzyklopädischen Werken neuer Dimension. Ein frühes und in seinem Umfang beeindruckendes Beispiel stellt das Theatrum Humanae Vitae des Baseler Arztes und Humanisten Theodor Zwinger dar, das in erster Ausgabe 1565 erschien.[1] Die Kölner Jesuiten erwarben 1621 die neueste Ausgabe dieses Werkes von 1604.[2] Sie ließen das fast 4500 Seiten umfassende Werk in vier reich verzierte Schweinslederbände binden.

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Gemäß den Vorgaben der spanischen Bücherverbotsliste wurden auf das Titelblatt Notizen angebracht

Millimeterarbeit im Auftrag der Inquisition

Millimeterarbeit im Auftrag der Inquisition

Damit war die Bearbeitung der Theatrum-Ausgabe aber noch lange nicht abgeschlossen. Vielmehr zeigt der Blick in die Bände, dass der Text einer umfangreichen Zensur unterzogen wurde: Einzelne Worte, ganze Sätze und an manchen Stellen längere Textpassagen wurden durch Schwärzung oder Überklebung unkenntlich gemacht. Eine handschriftliche Notiz auf dem Titelblatt des ersten Bandes gibt Aufschluss über die Hintergründe dieser Bearbeitung: Dort wird Zwinger als DAMNATUS, also als verurteilt, bezeichnet. Das Theatrum selbst sei jedoch cum Expurgatione permissu, also nach einer Reinigung erlaubt. Die Formulierungen weisen damit auf eine Praxis hin, die im 17. Jahrhundert weit verbreitet war: Zensurexemplare standen zu dieser Zeit in vielen Bibliotheken, da sowohl weltliche als auch geistliche Mächte die Zensur einsetzten, um die Ausbreitung unerwünschter Meinungen und Ideen zu hemmen.[3] Als die Kölner Jesuiten die vorliegende Version des Theatrum erwarben, waren verschiedene Editionen des Werks bereits auf päpstlichen, universitären und staatlichen Indices, also Bücherverbotslisten, aufgeführt. Federführend bei der Zensur der neuesten Ausgabe war der spanische Großinquisitor Bernard de Sandroval.[4] Wenig später wurden dessen Zensuranweisungen auch in die päpstlichen Indices übernommen[5], was sicherlich die Dringlichkeit für katholische Bibliotheken erhöhte, diese auch umzusetzen. Die Kölner Jesuiten kopierten die Eintragungen, die laut dem spanischen Index auf der Titelseite angebracht werden sollten, und bearbeiteten den kompletten Text gemäß der Anweisungen zur ‚Reinigung‘ der Enzyklopädie durch Löschung kürzerer und längerer Textpassagen. Die Zensur muss eine mühsame Arbeit gewesen sein, denn die Anweisungen waren umfangreich und penibel. Wie an einigen Stellen erkennbar ist, wurden die angegebenen Textstellen erst mit einem bunten Stift markiert und dann mit Papier überklebt.

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  • Foto einer Seite auf der Textstellen überklebt sind. Großansicht:
    Zensierte Textstellen in Zwingers Enzyklopädie "Theatrum Humanae Vitae"
  • Die unzensierte Version der historischen Buchseiten. Großansicht:
    Unzensiertes Exemplar der gleichen Textstelle in Zwingers Enzyklopädie "Theatrum Humanae Vitae". (Quelle: Münchener DigitalisierungsZentrum Digitale Bibliothek, https://www.digitale-sammlungen.de/view/bsb10633612?page=40,41)

Unter dem Papier: Zeilen des Anstoßes

Theodor Zwinger war in Basel aufgewachsen, einem wichtigen Zentrum der reformierten Konfession. Er selbst vertrat eine Lehre der Toleranz und griff den religiösen Dogmatismus auf allen Seiten des Glaubenskonfliktes an.[6] Im Zeitalter der konfessionellen Auseinandersetzungen duldeten die katholischen Autoritäten solche Angriffe nicht und veranlassten daher deren Zensur. Wie weit sie dabei gingen, demonstriert ein Beispiel aus dem 27. Band des Theatrum: Zum Thema Modestia Vitae, also der bescheidenen Lebensführung Geistlicher, hatte Zwinger erstens einen Beschluss des spätantiken Papstes Zosimus zitiert, der Geistlichen das Trinken in der Öffentlichkeit verbot, und zweitens einen Beschluss der Synode von Seligenstadt 1023, der nächtlichen Alkoholkonsum vor dem Feiern der Messe rügte. Dieser Synodalbeschluss sollte aus dem Theatrum entfernt werden – vielleicht, weil er ein schlechtes Licht auf den getadelten Klerus warf? Im Exemplar der Kölner Jesuiten wurde jedenfalls der darüberliegende Satz, der auf Zosimus verwies, mitgetilgt – sei es aus Versehen oder weil der Zensor auch daran Anstoß fand. Dass die unkenntlich gemachten Textpassagen mitunter auch die hitzig umkämpften Streitfragen des konfessionellen Zeitalters betrafen, zeigt hingegen direkt die nachfolgende Passage: Gleich zwei Seiten widmete Zwinger der Frage nach der Priesterehe und dem Zölibat. Als Einleitung dazu führt er einen Synodalbeschluss von 1119 während des Pontifikats Papst Calixt II. auf, der Priestern und Diakonen nicht nur die Ehe, sondern auch das Zusammenleben mit Konkubinen verbot. Zwinger ließ es sich nicht nehmen, auch noch ein kurzes Schmähgedicht abzudrucken, in dem Calixt der Hass des gesamten Klerus angedichtet wird. Das Theatrum bezieht nicht wirklich Stellung, präsentiert aber eine Auswahl an Informationen, die Zweifel an der katholischen Lehrmeinung hervorrufen – also jener Lehrmeinung, die von der Zensur geschützt werden sollte.

Die Enzyklopädie in Zeiten der Zensur

Die Idee dieser und der unzähligen anderen Zensuren im Theatrum war es, die so umfassend angelegte Enzyklopädie um einige ihrer Informationen, die ja immer auch Denkanstöße sein können, zu berauben. Entstehen sollte ein Werk, das zwar noch seine Nützlichkeit behielt, das den Leser aber auf keinen Fall auf ‚Irrwege‘ leiten konnte – eine Enzyklopädie, die nicht möglichst alles, sondern nur einen vorgegebenen Anteil des Wissens versammelte.

[1] Vgl. Zedelmaier, Helmut: Navigieren im Textuniversum. Theodor Zwingers Theatrum vitae humanae, in: Flemming Schock (Hg.): Dimensionen der Theatrum-Metapher in der frühen Neuzeit. Wehrhahn, Hannover 2008, S. 113-135.

[2] Zwinger, Theodor/Zwinger, Jakob (Hg.): Theatrum Humanae Vitae… Basel: Henricpetri, 1604. USB-Exemplar: P1/21+2 (früher GBI28+A)

[3] Vgl. Wolf, Hubert: Index. Der Vatikan und die verbotenen Bücher. München: Beck 2006.

[4] Vgl. Sandoval y Rojas, Bernardo de (Hg.): Index librorum prohibitorum et expurgatorum … Bernardi de Sandroval et Roxas…, Genf: Crespin 1620, S.765-803.

[5] Vgl. Reusch, Franz Heinrich/Wolf, Hubert: Der Index der verbotenen Bücher. Ein Beitrag zur Kirchen- und Literaturgeschichte. Mit einer Einleitung von Hubert Wolf, Darmstadt: WBG Academic 2019 [1886], Bd. 1, S. 418.

[6] Vgl. Gilly, Carlos: Zwischen Erfahrung und Spekulation. Theodor Zwinger und die religiöse und kulturelle Krise seiner Zeit, 2. Teil, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 79 (1979), S. 125-224, hier: S. 208-216.

Text zu Station 2:
Simon Grigo, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im LAM-Projekt der USB Köln „Rekonstruktion der Kölner Jesuitenbibliothek“.