STATION 5: ZUR WAHRNEHMUNG EINES BILDES ... EINES TEXTES ZUR WAHRNEHMUNG
Wie kann man sich von der theoretischen Wahrnehmungslehre Aristoteles bzw. ihrer Auslegung in der Scholastik durch Thomas von Aquin und seinen Nachfolgern eine sinnlich verständliche Vorstellung verschaffen? Auf diese Frage bietet die hier ausgestellte Handzeichnung eine sinn- und kraft-volle Antwort: Gewiss ein Seherlebnis zum Vergnügen des Geistes, um einen prägenden Eindruck vom jenem Wiegendruck zu vermitteln!
Eine sinn- und kraft-volle Handzeichnung
Die hier ausgestellte Handzeichnung befindet sich auf dem Vorsatzblatt – und dient damit quasi als Coverbild – einer am 5. Oktober 1498 in Köln bei Heinrich Quentell gedruckten Inkunabel der „sehr gediegenen Auslegung des Magisters Lambertus de Monte <Domini> zu Aristoteles’ drei Büchern Über die Seele“[1].
Der Philosoph und Theologe Lambertus, der um 1430/35 in der niederländischen Stadt ’s-Heerenberg (lat. Monte Domini) in der Provinz Gelderland an der Grenze zu Deutschland geboren und am 17. April 1499 in Köln, wo sich sein ganzer akademischer und kirchlicher Werdegang abspielte, gestorben ist, war ein Thomist, d.h. ein Scholastiker in der Nachfolge des Thomas von Aquin (†1274)[2].
Nach der allergetreuesten Interpretation jenes heiligen und engelgleichen Dominikanergelehrten vertrat Lambertus insofern die Lehre des Philosophenfürsten Aristoteles über die Seele. So bietet die hier ausgestellte Handzeichnung eine Verbildlichung der einschlägigen Konzeption der Einheit von Körper und Seele (als Substanz) und dadurch der einzelnen Wahrnehmungssinne und ihrer Verarbeitung bzw. Verinnerlichung durch die verschiedenen Seelenvermögen – dies zu einer Zeit, als man noch keine Kenntnisse des menschlichen Nervensystems hatte. Grundlage für diese Verbildlichung lieferte v.a. die als Zusammenfassung geltende schematische Gesamtordnung aller Seelengattungen und -potenzen mit deren Tätigkeiten und Funktionen, die am Ende der Inkunabel gedruckt wurde, wodurch sich das Handgezeichnete wie folgt aufteilen und erklären lässt:
- Der untere Bereich des Bildes, d.h. der unter dem Hals stehende Oberkörper zeigt eine grobe Darstellung des Kreislaufes zwischen den zum Teil falsch positionierten lebenswichtigen Organen, „was sehr ungewöhnlich ist, selbst in primitiven anatomischen Darstellungen“[4]. Dabei handelt es sich um eine Veranschaulichung der nach der Stufenordnung des Lebendigen (Pflanze, Tier, Mensch) niedrigsten Gattung von Seelen, nämlich die Nährseele (Vegetativpsyche), die als Erstes die kennzeichnende Funktion der Nahrungsaufnahme zur Erhaltung des Körpers besitzt. Vom Mund (os) aus, „in dem das Zerkauen der Nahrung erfolgt“, gelangen wir durch die Speiseröhre gerade hinunter zu einem überproportionierten Magen (stomachus), „in dem die erste Verdauung bzw. die Trennung des Groben vom Feinen der Ernährung stattfindet“. An ihn angeschlossen befindet sich unten rechts – vom Betrachter aus – die Leber (epar), „in der sich die Auflösung der Ernährung in den vier Körpersäften vollzieht“, d.h. im Blut, in gelber und in schwarzer Galle sowie im Schleim. Die Ernährung wird danach zum darüber liegenden Herzen (cor) weitergeleitet „und auf diesem Weg ergibt sich die dritte Verdauung“, indem dort „das reine Aufbewahrte“ als „Stoff“ entsteht, „wovon der gesamte tierische Organismus ernährt wird“[5]. Ferner ist das Herz mittels eines Durchgangs nach links mit einer ziemlich kleinen zweilappigen Lunge (pulmo) verbunden, welche an die Speiseröhre durch die Luftröhre als deren Abzweigung angeschlossen ist, und zwar zur Abkühlung des Herzblutes durch die Atmung. Schließlich liegt unten links ein vom Rest abgeschiedenes bzw. damit nicht verbundenes Organ, und zwar die Milz (splen).
- Der obere Bereich des Bildes, d.h. der nach links – weiterhin vom Betrachter aus – schauende Kopf stellt dann die mittlere der drei aristotelischen Grundformen des Seelischen bildlich dar, nämlich die Sinnenseele (Sensitivpsyche), innerhalb welcher zwischen den äußeren und den inneren Sinnen unterschieden wird. Demgemäß geht es zunächst um die außenweltbezogenen Wahrnehmungen der fünf Sinne, die durch die entsprechenden, beinahe alle im Gesicht sitzenden Sinnesorgane identifizierbar sind (mit Ausnahme des letzten): 1. das Sehen bzw. die visuelle Wahrnehmung (visus) durch das Auge; 2. das Hören bzw. die auditive Wahrnehmung (auditus) durch das Ohr; 3. das Riechen bzw. die olfaktorische Wahrnehmung (olfactus) durch die Nase; 4. das Schmecken bzw. die gustatorische Wahrnehmung (gustus) durch die Zunge; sowie 5. das Tasten bzw. die haptische Wahrnehmung (tactus) der Hauptqualitäten, die die vier Elemente bestimmen, d.h. des Warmen, des Kalten, des Feuchten und des Trockenen. Zu den vier nach innen gerichteten und deshalb in der Gehirnhöhle angeordneten Wahrnehmungsvermögen gehören: 1. „der sich oberhalb des rechten Auges befindende Gemeinsinn (sensus communis), dessen Gegenstand das sinnlich Wahrnehmbare ist, insofern es erfassbar ist“; 2. „die sich oberhalb des linken Auges befindende Einbildungskraft (virtus imaginativa), deren Gegenstand das sich einprägende sinnlich Wahrnehmbare ist“; 3. „die sich am Scheitel des Kopfes befindende Überlegungs- bzw. Urteilskraft (virtus cogitativa sive estimativa), deren Gegenstand der Erkenntnisinhalt ist, der nicht sinnlich erfassbar ist“; und 4. die sich am Hinterkopf befindende Erinnerungskraft“ (virtus memorativa), deren Gegenstand der sich einprägende Erkenntnisinhalt ist“.
- Zuletzt sollen die drei um den haarlosen Schädel stehenden Kreise zu erläutert werden, die auf diese Weise die körperunabhängigen und somit nicht ortbaren Seelenvermögen versinnbildlichen, angefangen – oben links vom Bild – mit dem Willen (voluntas), der die rationale Gestalt des Strebevermögens bildet (so dass er zum vernünftigen Seelenteil gehört) und als Sitz der sittlichen Tugend der Gerechtigkeit fungiert. Die beiden übrigen Kreise repräsentieren ihrerseits die dritte und nach Aristoteles’ Bedingungshierarchie höchste Ebene des Seelischen, nämlich die Geist- bzw. Vernunftseele (Rationalpsyche), welche zweigeteilt ist: zum einen – ganz oben rechts – die passive oder potentielle Vernunft (intellectus possibilis), „deren Gegenstand die Washeit des stofflichen Dinges ist, insofern sie erfassbar ist“; und zum anderen – darunter – die tätige oder aktuelle Vernunft (intellectus agens), „dessen Gegenstand die Washeit des stofflichen Dinges ist, insofern sie erschaffbar ist“, weshalb sie sich zur Erfüllung ihrer Aufgabe sowohl der Einbildungs- als auch der Erinnerungskraft direkt bedient, um aus den dort gespeicherten wahrgenommenen Formen die denkbaren herauszuarbeiten.
In Anbetracht der Tatsache, dass die jeweiligen Beschriftungen zu den o.g. Komponenten dieser Ad-hoc-Bildgestaltung fehlen, erscheint das Ganze irgendwie als unvollendet. Jene Annahme wird durch eine nahezu gleiche, diesmal allerdings später, vermutlich in der Renaissance (aufgrund der verfeinerten Gesichtsstruktur) vervollständigte Handzeichnung verstärkt, die sich in einem weiteren Exemplar derselben, heute im Bestand der U.S. National Library of Medicine aufbewahrten Kölner Inkunabel befindet. Zum Katalogeintrag >> Siehe dazu Dorothy May Schullian, A Catalogue of Incunabula and Manuscripts in the Army Medical Library, New York: Published for the Honorary consultants to the Army Medical Library by Henry Schuman, 1950[?], Nr. 275, S. 122 [6].
[1] Originaltitel: Expositio saluberrima magistri Lamberti de Monte circa tres libros de Anima Arestotelis.
USB-Exemplar: GBVII19+B
[2] Zu Lambertus’ Vita siehe Hans Gerhard Senger, „Lambert von Heerenberg“, in: Neue Deutsche Biographie 13 (1982), S. 433-435.
[3] Laut dem Untertitel der Inkunabel handelt es sich in der Tat in diesem Werk um eine Auslegung, „die mit den sehr ausgezeichneten Kommentaren des göttlichen Thomas von Aquin, des scharfsinnigsten Interpreten der [aristotelischen] Naturphilosophie übereinstimmt“. Übersetzung: Dr. M. Mauriège.
[4] Henry E. Sygerist, „Two Fifteenth Century Anatomical Drawings“, in: Bulletin of the History of Medicine, 13/3 (1943), S. 313-319, hier S. 318.
[5] Alle folgenden Übersetzungen aus dem Lateinischen wurden vom Autor Dr. M. Mauriège vorgenommen.
[6] Siehe dazu Dorothy May Schullian A Catalogue of Incunabula and Manuscripts in the Army Medical Library, New York: Schuman, 1950[?], Nr. 275, S. 122.
Text zu Station 5:
Dr. Maxime Mauriège, Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Bibliothekar des Thomas-Instituts der Universität zu Köln und des Dezernats „Historische Bestände und Sammlungen, Bestandserhaltung und Digitalisierung“ der USB Köln.